Im Bann der Finsternis

(Seribain Bd. 2)

© Ulrike Güthe-Wunderlich
© UGW

Leseprobe

Anfang Kapitel 1

Ein gewaltiger Knall ließ Sarah von der Gartenbank hochfahren, auf der sie bis eben gemütlich die ersten Sonnenstrahlen des Jahres genossen hatte. Entsetzte Schreie hallten an ihr Ohr, Menschen rannten wild durcheinander.

Was war passiert? Sarah raste zum Gartentor. Einige Dorfbewohner hetzten Richtung Schulgebäude. Dichter Rauch quoll zwischen den Bäumen hervor und verschlang die heranstürmenden Menschen wie ein wildes Raubtier. Das Herz schnürte sich in ihrer Brust zusammen. Cendir!

Sarah riss die Pforte auf und stürzte hinter den anderen Menschen her. Hinter sich vernahm sie lautes Hufgetrappel. Sarah hielt nicht an, rannte weiter.
Der Schimmel war plötzlich neben ihr, schnaubte. Im Laufen blickte sie hoch und sah die ausgestreckte Hand Ranons. Sie griff zu und mit einem Schwung riss der Jäger sie hinter sich auf das Pferd.

»Was ist passiert?«, brüllte Ranon, während er seinem Pferd die Sporen gab.

»Ich weiß es nicht, aber Cendir ...« Weiter kam Sarah nicht, der Anblick der lichterloh brennenden Schule schnürte ihr die Stimme ab.

Ranon lenkte das Pferd geschickt durch die aufgewühlte Menschenmenge, die sich mit Eimern und Schläuchen um das Gebäude verteilt hatte. Noch im Galopp sprang Sarah vom Rücken des Pferdes herunter und stürzte auf den brennenden Eingang zu.

»Wo sind die Kinder!«, schrie sie panisch.
Keiner antwortete ihr. Gehetzt blickte sie sich um. Schreiende Mütter, weinende Kinder ... alle liefen durcheinander.

»Cendir!« Sarah schrie den Namen ihres Sohnes so laut sie nur konnte. Doch sie erhielt keine Antwort. Sie bahnte sich ihren Weg durch die Menschen, blickte wenige Sekunden in jedes Gesicht, doch das ihres Sohnes war nicht dabei. Männer kämpften mit Wassereimern einen aussichtslosen Kampf gegen das Flammenmeer. Nichts und niemand würde das Gebäude noch retten können.

»Cendir! Hat irgend jemand meinen Sohn gesehen? Cendir?« Wenige Menschen beachteten ihre Schreie überhaupt und diese schüttelten nur mit dem Kopf.

Sarah rannte auf das Haus zu, wollte hinein, doch Ranon hielt ihren Arm fest.

»Nein, Sarah! Das Haus stürzt jeden Moment ein. Du kannst da nicht mehr reingehen!«

Sarah zerrte an ihrem Arm und wand sich wie eine Schlange.
»Lass mich los! Ich muss Cendir finden!« Sie schaffte es sich zu befreien, riss einem der Männer einen Wassereimer aus der Hand und schüttete sich den Inhalt über den Kopf. Bevor noch jemand sie zurückhalten konnte, hechtete sie in das lichterloh brennende Schulgebäude. Heißer Qualm nahm ihr den Atem, biss in ihren Lungen, dass sie nur noch Keuchen konnte. Die Hitze war unerträglich. Schon spürte sie wie ihre Haut Blasen schlug. Schmerz! Flammen züngelten sich an ihren Kleidern hinauf. Balken stürzten über ihr zusammen.

»Cendir!«, keuchte sie, hustete und schlug die Arme schützend vor das Gesicht. Das Brausen der Flammen klang wie ein höhnisches Lachen. Ein Lachen, dass sich so tief in ihrem Gedächtnis verankert hatte, dass ihr trotz der gewaltigen Hitze ein kalter Schauer über den Rücken lief.

Nur einen winzigen Augenblick sah sie etwas aufleuchten. Für den Bruchteil einer Sekunde teilten sich die Flammen um sie herum und bildeten einen Korridor zur Mitte des Raumes und was sie dort sah, verschlug ihr den Atem, raubte ihr die Sinne, bis nur noch Schwärze blieb.

Das Knacken und Knirschen des Holzes klang wie das Schreien eines sterbenden Menschen, als das Gebäude in sich zusammenstürzte. Funken stoben in alle Richtungen, Staub und Rauch verteilten sich über den ganzen Platz.

»Sarah!« Ranon stürzte auf die Knie und grub seine Finger in den Dreck des Bodens. Das Entsetzen lähmte ihn, ließ ihn keuchen. Er schrie und all seine Verzweiflung wurde freigesetzt. Nicht sie!

Menschen um ihn herum rannten hektisch hin und her, trugen Eimer. Ein Pumpenwagen spritze unaufhaltsam sein Wasser in die Flammen. Rauch und Dampf hüllte alles ein. Keiner beachtete ihn.

Erst nach Stunden war das Feuer besiegt. Die Männer und Frauen suchten in den Trümmern nach Cendir und Sarah. Ranon lehnte benommen an einem Baum und starrte ins Leere. Sein Blick war tränenverschleiert. Nur ein winziger Augenblick hatte ihm seine Familie geraubt - alles, was er je geliebt hatte, war ihm genommen worden. Sein Herz fühlte sich an, als hätte man es mit einem Barbiermesser geteilt. Die Welt war über ihm zusammengestürzt und er konnte sich aus den Trümmern nicht mehr befreien. Er spürte den nicht enden wollenden Wunsch, diese Katastrophe möge nicht real geschehen sein, sondern sich nach dem Aufwachen als böser Traum entpuppen.

»Sie lebt!«

Wie durch einen Schleier drang die Stimme in sein Bewusstsein, doch er begriff die Worte nicht.

»Ranon! Sarah lebt!« Ein junger Mann mit rußverschmiertem Gesicht stürzte auf ihn zu, packte seine Schultern und rüttelte ihn, bis er wieder klar denken konnte.

Verwirrt schüttelte Ranon den Kopf. »Das ist unmöglich, Tewar!«

Tewar zerrte Ranon mit sich. »Sie ist in den Keller gestürzt! Sie ist schwer verletzt, aber sie lebt.«

Jetzt endlich begriff Ranon die Worte des jungen Mannes und Leben kam in ihn. Er hetzte auf die Trümmer zu, kletterte über die noch immer heißen Balken, schob Geröll und Schotter beiseite und kämpfte sich zu den Menschen durch, die sich um ein Loch im Boden des völlig zerstörten Gebäudes scharten. Als er in das Loch blickte krampfte sich seine Brust zusammen.

Sarah lag gekrümmt am Boden. Davin, der Kräuterheiler, kniete neben ihr und hielt ihre blutverschmierte Hand. Er blickte auf. Seine verkrampften Kinnmuskeln ließen sein Gesicht hart erscheinen.

Ranon ließ sich auf den Boden nieder, schwang seine Beine über den Abgrund und versuchte beim Herabspringen nicht auf Sarah zu landen.
Das lähmende Entsetzen, dass sein Herz gefangen gehalten hatte, war der Hoffnung gewichen. Er strich ihr sanft das angesengte Haar aus dem Gesicht. Sarahs Atem war flach, kaum, dass sich ihr Brustkorb bewegte. Doch sie war am Leben!

Davin seufzte. »Es sieht nicht gut für sie aus. Gar nicht gut ...«

»Sie wird es schaffen! Sie ist eine Sinh.« Ranon glaubte selbst nicht an seine Worte.

Davin schüttelte hoffnungslos den Kopf. »Auch eine Sinh ist nicht unsterblich. Ich will dir nicht die Hoffnung nehmen, Ranon. Aber du musst damit rechnen, dass sie die nächste Nacht nicht übersteht.«

»Magie könnte sie heilen!« Ranon starrte Davin voller Verzweiflung an.

Der alte Mann legte seine Hand auf Ranons Arm. »Wir haben aber keine Magier auf Fandor, Ranon. Und einen zu holen, würde Tage dauern. Sie wird es nicht so lange schaffen.« Davin schloss die Augen. »Alles, was ich für sie tun kann, ist ihr einen schmerzfreien Tod zu gewähren.«

Ranon packte Davins Schulter und drückte so kräftig zu, dass der alte Mann zusammenzuckte. »An so etwas dürft Ihr nicht einmal denken!«


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